Salzburger Festspiele 2019
Richard Strauss, Salome
„Opernwelt“-Umfrage: Salzburger „Salome“ räumt groß ab
(red, ORF.at/Agenturen, 19. September 2019)
Die „Salome“ der Salzburger Festspiele hat bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Opernwelt“ abgeräumt: Die Produktion wurde zur Aufführung des Jahres gewählt, Romeo Castellucci lieferte zudem die beste Regie sowie das beste Bühnenbild, und die litauische Sopranistin Asmik Grigorian in der Titelrolle darf sich Sängerin des Jahres nennen. Befragt wurden dafür 50 Musikjournalistinnen und Musikjournalisten.
Gedanken von Franz Welser-Möst zu Salome
Die Oper Salome ist ein faszinierendes Werk. Mit Recht wird sie als Beginn und gleichzeitig auch als Höhepunkt der modernen deutschen Oper in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen. Gustav Mahler, der anfänglich seine Bedenken gegenüber der Vertonung des Textes von Oskar Wildes Drama hatte, äußerte in einem Brief an Richard Strauss im Jahr der Uraufführung 1905 anerkennend: „Und nun, lieber Strauss – ich kann nicht umhin, Ihnen von dem hinreißenden Eindruck zu sprechen, den mir Ihr Werk bei der neuerlichen Lesung macht! Das ist der Höhepunkt bis jetzt! Ja, ich behaupte, dass sich nichts damit vergleichen lässt, was sogar Sie bis jetzt gemacht haben […] Da sitzt jede Note! Was ich schon lange gewusst habe: Sie sind der berufene Dramatiker!“ (Gustav Mahler an Richard Strauss, Wien, 11. Oktober 1905)
Was macht Salome zu diesem herausragenden musikdramatischen Wurf, der den Durchbruch von Strauss als Opernkomponist begründete? Bemerkenswert ist die Perfektion der auf das Wesentliche reduzierten Struktur des Aufbaus, die auf eine Ouvertüre verzichtet und durch eine konstante Steigerung harmonischer, rhythmischer und dynamischer Komponenten bis zur letzten Note die Dramatik der Handlung bestimmt. Die musikalische Architektur baut sich in einer symmetrischen Anordnung um ein Zentrum – den Tanz der Salome – auf.
Was jedoch die besondere Bedeutung des neuen Stils der Strauss‘schen Oper für die Entwicklung des musikdramatischen Genres ausmacht, ist die charakteristische und variantenreiche Ausgestaltung der Beziehung zwischen Wort und Ton. Strauss verzichtet bei Salome auf ein Libretto in Versform. Er verwendet – abgesehen von einigen Kürzungen von Textteilen zugunsten der Musik – den Prosatext aus Wildes Drama, ein herausragendes Beispiel einer „Literaturoper“. Von da her gesehen ist für Strauss die Textverständlichkeit ein wichtiges Anliegen, der deklamatorische Sprachstil erzeugt gemeinsam mit der Musik Gegenwart und Unmittelbarkeit. Mit Hilfe der Schaffung von Klangwelten gelingt es ihm gleichzeitig, die Aktionslosigkeit der äußeren Handlung durch musikalische Raumgebung zu erweitern, sodass die Oper als „Drama des Inneren“ bezeichnet werden kann. Ein permanenter musikalischer Subtext spiegelt das Seelendrama der Figuren und deren seelischen Abgründe wider. Er ermöglicht es auch, die einseitig negative Zeichnung der Personen der literarischen Vorlage zu überwinden und diesen einen komplexen Charakter zu verleihen. Mit klanglicher Raffinesse wird die Musik als Subtext zum Worttext verwendet. Wenn etwa Salome im Anblick Jochanaans „Er ist schrecklich, er ist wirklich schrecklich“ ausruft, könnte man an den Einsatz aggressiver Musik denken. Strauss macht genau das Gegenteil: er liefert einen sinnlichen musikalischen Subtext mit, denn das Schreckliche ist dennoch etwas Verlockendes, Faszinierendes.
Die Wiedergabe der Stimmungen und das Ausloten der psychischen Tiefe der einzelnen Figuren wird durch eine Klangfarbenbreite erreicht, die nicht zuletzt einen ungewöhnlich großen Orchesterapparat erfordert. Eine besondere Bedeutung spielen dabei auch Naturereignisse und ihre lautmalerische Umsetzung in Musik. Sie werden zu Metaphern des Innenlebens der Personen in ihrer schicksalshaften Verstrickung und in ihrer psychischen Verfasstheit. So beschreibt etwa das Wehen des Windes und das Rauschen von mächtigen Flügeln die plötzliche Angst des Tetrarchen Herodes.
Die Tonsprache der Oper ist ohne das Vorbild Wagners nicht denkbar, und es wurde des Öfteren ein Vergleich zu Tristan und Isolde gezogen. Dennoch geht Strauss über Wagner hinaus eigene Wege. Der Komponist verwendet wie sein musikalisches Vorbild immer wiederkehrende Leitmotive, die jedoch der inneren Entwicklung der Personen folgend in rascher Abfolge variieren und mit Hilfe der sie umgebenden Klangwelten transformiert werden.
Nach den Empfehlungen von Strauss an den „jungen Kapellmeister“ soll die Welt Mendelssohns in ihrer ganzen Sinnlichkeit wach werden: „Dirigiere „Salome“ und „Elektra“ als seien sie von Mendelssohn: Elfenmusik“ (Aus: Zehn goldene Regeln. Einem jungen Kapellmeister ins Stammbuch geschrieben, 1925). Man ist hier an den Sommernachtstraum erinnert, die Zeit der Handlung in Salome ist die der Nacht und des Mondes. Dadurch gewinnt sie einen eigenen Zauber und imaginiert die Atmosphäre der Unwirklichkeit einer anderen Welt. Durch klangliche Raffinesse entsteht eine Sinnlichkeit, die den Zuhörer sehr direkt anspricht. Wenn zu Beginn der Oper der Hauptmann Narraboth singt „Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht“ wird seine Angebetete durch zarte und intime Tongebung fassbar. Und selbst der ekstatische Rausch, dem Salome am Ende der Handlung erliegt, ist einem Rausch der Farben vergleichbar. Seine musikalische Gestaltung darf nicht in Lautstärke ausarten, sondern soll in seiner Leidenschaftlichkeit wie aus einer uns nicht zugänglichen Welt erklingen. Auch das langsame Thema im Tanz Salomes schafft eine erotisch-sinnliche Aura und öffnet eine klangliche Welt, die dem menschlichen Alltag enthoben wie irreal erscheint.
Salome ist im Fin de siècle und in den Jahrzehnten davor ein beliebtes Sujet, das Motiv der Kindfrau, die in ihrer Gefährlichkeit die Männerwelt in den Abgrund zieht. Dennoch zeichnet die Oper eine weit über das übliche Klischee der Femme Fatale hinausgehende junge Frau, die durch Macht und Reichtum verwöhnt ist und in ihrer enttäuschten Begierde nicht vor der Tötung des begehrten Mannes zurückschreckt. Sie scheint aber auch kindlich-naiv, verzweifelt, und ist vom Glauben beseelt, zu lernen, was Liebe sein könnte. Letztlich wird auch sie in ihrer berührenden Verletzlichkeit zum Opfer. Der Schlussmonolog stellt ein Kompendium der inneren Sehnsüchte und Verwirrungen der Prinzessin dar. In rascher Abfolge erleben wir das Schwanken zwischen Verliebtheit und Hass, Menschlichkeit und Perversität, Zärtlichkeit und Spott. Sie fällt in Ekstase, wie sie dem dionysischen Rausch eigen ist. Das tragische Ende ist ähnlich wie bei Isolde der Liebestod für einen Toten.
Der Mann ihrer Begierde, Jochanaan verkörpert für Salome den Fremden, der in die eigenartige Gesellschaft des Königshofes eindringt, ein Fremder in ihrem gewohnten Umfeld. Der Asket und religiöse Fanatiker, dem etwas Mystisches anhaftet, übt auf die verwöhnte Fürstentochter große Attraktivität aus. Die musikalische Charakterisierung des Täufers durch einen hymnischen Stil in einfach gehaltenen Harmonien und der Einsatz des Tamtams als „Instrument der Endzeit“ stehen in scharfem Kontrast zur sinnlichen Charakterisierung Salomes. Das höfische Umfeld der Königstochter wird repräsentiert durch Herodes, ihrem Stiefvater, einem politischen Parvenue ohne Rückgrat, durch dessen Frau Herodias, die hysterische Züge aufweist und durch den in Salome verliebten naiven Narraboth.
Es liegt nahe, die Oper in den Kontext der Forschungen eines George Miller Beard über die nervöse Erschöpfung (Neurasthenie) bis hin zur Psychoanalyse eines Sigmund Freud zu rücken. Es greift jedoch zu kurz, Salome ausschließlich als Produkt ihrer Zeit anzusehen. Strauss ist es gelungen, mit seinem Werk ein neues Kapitel der Operngeschichte zu eröffnen. Er lässt die Welt des Historismus, des ästhetischen Zeitalters, der Décadence, des Jugendstils, des Fin de siècle hinter sich und schafft ein Meisterwerk, das die Kunst des Expressionismus vorwegnimmt und wegweisend für die Musikdramaturgie der kommenden Jahrzehnte ist – und bis heute nichts an seiner Faszination verloren hat.