Gustav Mahler und die Neunte Symphonie

Gedanken von Franz Welser-Möst zu Gustav Mahlers Neunter Symphonie

 

Am 26. Juni 1912 spielen die Wiener Philharmoniker die Uraufführung der 9. Symphonie von Gustav Mahler, es dirigiert der langjährige Vertraute und Freund des am 18. Mai des vorhergegangenen Jahres verstorbenen Komponisten Bruno Walter. Der Dirigent äußert in Zusammenhang mit diesem außergewöhnlichen Werk: „Er hatte die Seele eines Mystikers!“

Das Werk entsteht in einer Zeit, die im Namen des technischen Fortschritts die Mechanisierung und Motorisierung der Welt vorantreibt. Das drückt sich auch mehr und mehr in der Musik aus. In weiterer Folge entwirft 1913 Igor Strawinsky Le Sacre du Printemps, geprägt von großer rhythmischer Motorik; es folgen Arthur Honegger, Sergei Prokofjew und andere – die Moderne ist in der Musik angekommen.

Auch deshalb fühlt sich die Neunte von Mahler wie aus der Zeit gefallen an, nicht nur damals, sondern auch heute. Sie beschäftigt sich mit der Zeit an sich, der Lebenszeit: Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Alter, Tod. Die musikalische Form der Symphonie gibt das Gerüst für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Sie bildet ein Narrativ, das ein Ziel in sich trägt, formuliert und auf ein Ende zielt. Hier in der Neunten geschieht dies jedoch anders als je zuvor: der erste Satz – langsam behaglich gehend, zurückblickend -, der vierte und letzte Satz – sehr langsam voraussehend. Dazwischen Groteskes und Burleskes.

© Wiener Konzerthaus / Andrea Humer

Der große Dirigent und enge Freund Gustav Mahlers Willem Mengelberg hat ein Programm zu dieser Symphonie verfasst, das uns heute pathetisch anmuten mag, uns aber die Sicht der Zeitgenossen auf dieses Werk näher bringt. Er sieht die Neunte als Abschied von allen, die Mahler liebte, als Abgesang auf die Welt, auf seine Kunst, auf sein Leben, auf seine Musik.

  1. Satz: Abschied von ‚Seinen Lieben‘ (Seiner Frau und Kind – tiefste Wehmut!)
  2. Satz: ‚Totentanz‘ (Du musst ins Grab hinein!). Indem Du lebst, vergehst Du. Grimmiger Humor.
  3. Satz: Galgenhumor-! Arbeit, Schaffen, alles vergebliches Bemühen dem Tode zu entrinnen!! Trio – ein verschrobenes Ideal (Urmotive)
  4. Satz: Mahlers Lebenslied. Mahlers Seele singt ihren Abschied! Er singt sein ganzes Inneres. Seine Seele singt – singt – zum letzten Abschied: ‚Leb wohl‘! Sein Leben, so voll und reich – ist jetzt bald beendigt! Er fühlt und singt sein: ‚Lebe wohl, mein Saitenspiel‘

Alban Berg schreibt seiner Frau über den ersten Satz: „Der erste Satz ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugeniessen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich. Alles Irdisch-Verträumte gipfelt darin…“

© Wiener Konzerthaus / Andrea Humer

Der erste Satz präsentiert uns ohne Vorbereitung, ohne Einleitung, unmittelbar sehr zart beginnend, die musikalischen Symbole, die der Entwicklung des großen Themas „Rückblick“ dienen:

  • ein Traum-Rhythmus (von Celli und 4. Horn vorgetragen), der an einen aus dem Takt gekommenen Herzschlag erinnert. Oder wie es Jens Malte Fischer ausdrückt: „das Stammeln eines aus dem Traum Erwachenden“
  • ein Todesglockenmotiv, am Anfang vom „Engelsinstrument“ Harfe gespielt, das an die Stelle „Die Zeit ist um“ aus Parsifal von Richard Wagner erinnert
  • Das „Leb wohl“, das eine Verbindung zu Beethovens Klaviersonate Les Adieux aufweist
  • Das Zitat aus Johann Strauß‘ Walzer Freut Euch des Lebens
  • Das Todes-Klangsymbol
 
 

Dieser erste Satz, voll schön anmutender Erinnerungen, versucht mehrmals positiv gestimmte Entwicklungen herbeizuführen, die aber jedes Mal in die Katastrophe münden. An einer bittersüßen Stelle schreibt er in die Partitur die Worte: O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!

Diese Worte voller Wehmut, die am Schluss nochmals das „Freut Euch des Lebens“ und das „Leb wohl“ im süßen Klang der Sologeige verklingen und entschweben lassen, erinnern mich an ein Zitat von Rainer Maria Rilke: „denn die Schönheit ist nichts als des Schrecklichen Anfang“.

In diesem Sinne lassen sich auch der zweite und dritte Satz dieser Symphonie deuten.

Der zweite Satz, den Mengelberg als Totentanz beschreibt, ist von Mahler überschrieben mit Im Tempo eines gemächlichen Ländlers und mit dem Zusatz versehen: etwas täppisch und sehr derb. Gemächlich im Tempo, aber nicht im Ausdruck! Immer wiederkehrende Betonungen auf den „falschen“ Taktteilen unterlaufen sofort jegliche Gemütlichkeit, die man vermuten könnte, da sie dem Ländler als Tanz immanent ist. Das musikalische Material wird verzerrt und beschleunigt, sodass oft der Eindruck von grimassierenden, grimmig dreinblickenden Fratzen entsteht – bis auf das nochmals versponnen zart erklingende ‚Leb wohl‘. Mit einem großen musikalischen Fragezeichen endet dieser Satz, als ob Mahler diesen Tanz des Lebens in seiner derben, täppischen Art hinterfragen würde. Der Tanz als Zwang und nicht als Ausdruck des Feierns.

Der dritte Satz ist von Mahler den Brüdern in Apoll gewidmet. Ein zynischer Schlag auf seine Künstlerkollegen… Trotzig und auflehnend hetzt dieser Satz dahin – ohne Rast und Ruh. Dazwischen gibt er sich heiter oder macht sich auch über all diese Konflikte lustig. Nur einmal verkündet uns die Trompete zart von einer anderen Welt, der Welt der Liebe. Von den Violinen Mit großer Empfindung wiederholt, ist dieser paradiesisch klingende Zustand nur von kurzer Dauer. Spukhaft nimmt die konfliktreiche Musik wieder Fahrt auf und überschlägt sich beinahe, bevor sie ein jähes Ende findet. Gehetzt durchs Leben, nach Erfolg und Aufmerksamkeit heischend.

Davon ist im letzten Satz nichts mehr zu hören. Als letzte Station dieser mystischen Symphonie nimmt Mahler Anleihe beim anglikanischen Choral Abide with me, my Lord! –  Bleib bei mir, o Herr! und führt dieses Thema in 13 (die Unglückszahl 13…) Variationen durch. Nachdem die letzte Variation verstummt ist, führt die letzte Seite der Partitur in die Tiefen des Mythos von Raum, Zeit und Dasein, ein Ausblick auf eine mögliche andere Welt. Mahler gibt hier keine Antworten auf die Frage nach dem Danach, wagt aber eine mystische Vorausschau, die er mit einem Zitat aus seinen Kindertotenliedern unterlegt. Aus dem vierten Lied Oft denk‘ ich, sie sind nur ausgegangen entnimmt er die Passage: Der Tag ist schön auf jenen Höh‘n. Diese letzte Seite in der Partitur notiert Mahler mit der Anweisung: Langsam und sehr, sehr leise bis zum Schluss, mit inniger Empfindung, ersterbend – der wohl schönste Abgesang der Musikgeschichte.

© Wiener Konzerthaus / Andrea Humer